Mao und Kulturrevolution, Xi Jinping und Systemrivalität – dazwischen liegen 50 Jahre Beziehungen zwischen Deutschland und China. Ungleiche Partner eines wirtschaftlichen Höhenflugs, die sich immer fremder werden.
Welches Land ist der wichtigste Handelspartner Deutschlands? China, schon sechs Jahre in Folge. Aus welchem Land kommen die meisten ausländischen Studierenden an deutschen Hochschulen? Aus China, im letzten Wintersemester genau 43.629. Mit welchem Land hat Deutschland seine Beziehungen auf die Ebene einer “umfassenden strategischen Partnerschaft” gehoben? Mit China. Von “großer Vielfalt und Dichte” in den deutsch-chinesischen Beziehungen schreibt entsprechend das Auswärtige Amt auf seiner Webseite. Aber auch davon, dass China für Deutschland nicht nur Partner sei und Konkurrent, sondern auch “systemischer Rivale”.
Nichts von all dem war zu ahnen, als am 11. Oktober 1972 der damalige Bundesaußenminister Walter Scheel und sein chinesischer Amtskollege Ji Pengfei in Peking die Urkunden zur gegenseitigen diplomatischen Anerkennung austauschten. Die Volksrepublik China war nicht die Wirtschaftssupermacht von heute. Vor einem halben Jahrhundert war sie ein bitterarmes Entwicklungsland, gelähmt von Jahren der Kulturrevolution, geführt von einem alternden Mao Zedong, der in einem Trakt des ehemaligen Kaiserpalastes in Peking längst den Kontakt zur Bevölkerung verloren hatte.
Von “wertegebundener Außenpolitik” war damals keine Rede. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Deutschland und Europa waren geteilt. Die USA und die Sowjetunion standen sich unversöhnlich gegenüber. Nach der Logik von “Der Feind meines Feindes ist mein Freund” hatte im Februar 1972 der damalige US-Präsident Richard Nixon überraschend Peking besucht. China hatte sich zuvor mit dem kommunistischen Bruderstaat Sowjetunion überworfen. Nixons historischer Besuch war der Startschuss für einen Wettlauf nach Peking. Deutschland war vorne mit dabei.
Duisburg an der Seidenstraße
Ein halbes Jahrhundert später zeigt sich die “Vielfalt und Dichte” der Beziehungen auch in den über 100 Partnerschaften zwischen deutschen und chinesischen Städten. Wie bei der zwischen Duisburg und Wuhan – Städten, die schon von der Größe her so verschieden sind wie Deutschland und China: mit einer knappen halben Million Einwohnern in Duisburg und über acht Millionen in Wuhan. Duisburg hat eigens ein China-Referat eingerichtet, um die Beziehungen weiter zu intensivieren. Dabei sind die Verbindungen schon eng.
Der Duisburger Zoo ist nicht nur stolz auf seine roten Pandas, sondern vor allem auf den chinesischen Garten. Komplett mit Wasserpavillon, Bogenbrücke und Löwenstatuen ein Geschenk der Partnerstadt Wuhan. Die Universität Duisburg-Essen pflegt Hochschulkooperationen mit chinesischen Partnern.
Aber vor allem ist Duisburg zu einem Knotenpunkt der neuen Seidenstraße geworden. Pro Woche fahren 60 Güterzüge aus China ein. Als 2014 der erste Zug aus Fernost in den Duisburger Bahnhof einfuhr, mit Girlanden geschmückt, stand Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping am Bahnsteig, begleitet vom damaligen Außenminister Sigmar Gabriel. Es sind Bilder einer vergangenen Zeit.
Der politischer Wind dreht
Der politische Wind hat sich gedreht – und ist deutlich rauher geworden. Ehedem sausten unterschiedlichste Delegationen beider Seiten wie die Weberschiffchen zwischen Deutschland und China hin und her. Heute sind Begegnungen zwischen deutschen und chinesischen Politikern selten geworden. Das hat auch mit der Pandemie zu tun, mit Chinas strikter Null-Covid-Strategie und restriktiven Einreisebestimmungen. Aber nicht nur.
Das hat vor allem damit zu tun, dass in den Beziehungen beider Staaten die Elemente Partnerschaft und Konkurrenz in den letzten Jahren zurückgetreten sind. Dafür ist die systemische Rivalität immer stärker in den Vordergrund gerückt.
Ob Chinas Drohgebärden gegenüber Taiwan, die Verfolgung der uigurischen Minderheit, die massive Unterdrückung der Demokratiebewegung in Hongkong oder der aggressive Auftritt Pekings im Südchinesischen Meer: Der Konfliktstoff mit China wächst. Und der Vorrat an Gemeinsamkeiten schmilzt.
Die Interessenunterschiede zwischen chinesischen und internationalen Partnern bei Joint-Ventures in China wurden früher gerne mit einem Bild beschrieben: “Im gleichen Bett schlafen, aber unterschiedliche Träume träumen.” Um im Bild zu bleiben: Es scheint, als hätten Deutschland und China inzwischen ihre Betten in unterschiedlichen Zimmern aufgestellt.
Systemkonkurrenz und Großmachtrivalität
Lange galt die Annahme, China würde sich durch seine Integration in die Globalisierung nicht nur wirtschaftlich an den Westen annähern, sondern auch politisch, erklärt Bernhard Bartsch vom Berliner Think-Tank MERICS. “Das haben auch viele in China so gesehen”, betont der China-Experte im DW-Gespräch. Das aber habe sich in den letzten Jahren unter Xi Jinping grundlegend verändert. “Letztlich sagt China: ‘Wir haben ein eigenes System. Und wir möchten die globale Ordnung und die entsprechenden Spielregeln verändern.’ Sie wollen das – in chinesischen Augen – westlich dominierte System nicht länger anerkennen und akzeptieren.”
Staats- und Parteichef Xi Jinping selbst hat für sein Land als ehrgeiziges Ziel formuliert: Bis zum 100. Gründungstag der Volksrepublik China 2049 soll China eine ausgereifte, moderne, sozialistische Macht sein mit der Fähigkeit, Regeln zu setzen und zu gestalten, wirtschaftlich und technologisch an der Weltspitze. Mit seinem Drang ins Zentrum der Weltordnung gerät China automatisch in Konflikt zur bisherigen Hegemonialmacht USA.
Für Berlin problematisch: Dieser Konflikt entspinnt sich zwischen Deutschlands wichtigstem Wirtschaftspartner und seinem mächtigsten Verbündeten. China-Experte Bartsch stellt fest: “Deutschland und Europa sind in einer Situation, wo sich immer häufiger die Frage stellt: Auf welcher Seite steht man denn?” In den Merkel-Jahren habe Berlin versucht, sich nicht zu einer solche Entscheidung drängen zu lassen, so Bartsch. Inzwischen aber sei so eine Entscheidung immer schwerer zu vermeiden. “Der politische Begriff dafür ist, dass das Verhältnis Deutschlands zu China und zu den USA nicht Äquidistanz ist. Dass wir viel näher an den USA sind als an China. Trotzdem wollen wir die Möglichkeiten, die das Verhältnis zu China bietet, nicht ungenutzt lassen”, erklärt Bartsch.
Ringen um Distanz
Inzwischen zeichnet sich ab: Berlin geht zu China auf Distanz. Robert Habeck, grüner Wirtschaftsminister und Vizekanzler, hat bereits eine “robustere Handelspolitik” gegenüber China angekündigt. Zum Abschluss der G7-Konferenz der Handelsminister erklärte Habeck Mitte September: “Die Naivität gegenüber China ist vorbei.” Interessant wird sicher, wie der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Peking aussehen wird, der nach Informationen des Nachrichtenportals Politico Anfang November stattfinden soll
Bereits Ende Mai hatte Habeck dem VW-Konzern Garantien für Investitionen in China verweigert. Ein Schock für die Wirtschaft. Jahrzehntelang war ihr das China-Geschäft mit Investitions- und Exportbürgschaften erleichtert worden. In den letzten Jahrzehnten waren die deutsch-chinesischen Beziehungen vor allem: Wirtschaftsbeziehungen, und zwar florierende. Deutsche Regierungschefs wurden auf ihren Reisen nach China regelmäßig von großen Wirtschaftsdelegationen begleitet; die Unterzeichnung neuer Kooperationsvorhaben wurde zelebriert. Gut 5000 deutsche Unternehmen sind heute in China aktiv; sie haben dort rund 90 Milliarden Euro investiert.
Heute ist die Stimmung gedrückt. Die Europäische Handelskammer in China beklagte in einem Mitte September vorgelegten Positionspapier, die Wirtschaft werde zunehmend politisiert. “Während China einst die Globalisierung prägte, gilt das Land heute als weniger berechenbar, weniger zuverlässig und weniger effizient”, heißt es in dem Kammerpapier.
“Wir leben aneinander vorbei”
Kammerpräsident Jörg Wuttke bedauert gegenüber der DW, dass sich “Europäer und Chinesen kaum noch austauschen können. Es fliegen kaum noch chinesische Würdenträger nach Europa. Das war immer wahnsinnig wichtig für einen Realitätscheck.” Umgekehrt ziehe es immer weniger deutsche Studierende nach China. “Das heißt: Wir leben aneinander vorbei”, resümiert Wuttke.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Dagmar Schmidt hat als Mitglied der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe die Entfremdung hautnah beobachten können. “Als ich 2014 Vorsitzende wurde, hatten wir noch einen sehr regen Austausch. Wir haben sehr viele Delegationen aus China empfangen, Gespräche angeboten, Diskussionen geführt. Das war immer sehr bereichernd”, erinnert sich Schmidt im DW-Gespräch. Aber dann seien die Begegnungen seltener geworden – und langweiliger. “Da wurde nicht mehr so frei gesprochen, sondern die sind zum Zettelchenvorlesen übergegangen; es war alles sehr viel kontrollierter.” Mit der Pandemie habe sich der Austausch dann weiter verschlechtert. Gelegentliche Videokonferenzen hätten eben nicht die Qualität des persönlichen Austauschs.
Zwar liegen Europa und China bereits an entgegengesetzten Enden eines gemeinsamen Kontinents. Und doch scheint es zum 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischen Beziehungen, als würden sie noch weiter auseinanderdriften.
Quelle: DW