Angesichts der steigenden Inflation, insbesondere bei Nahrungsmitteln und Energie, wird die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland immer größer. Stufenweise Erhöhungen der sozialen Sicherheitsnetze werden das Problem kaum lindern, warnen Experten.
Obwohl Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist, werden landesweit immer deutlichere Anzeichen zunehmender Armut sichtbar. Obdachlose, die schlecht schlafen, Mütter, die auf Mahlzeiten verzichten, um ihre Kinder zu ernähren, und Rentner, die nach ausrangierten Flaschen suchen, um sie gegen das Pfand einzutauschen.
Nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Deutschlands Spitzenverband der Wohlfahrtsverbände, leben 13,8 Millionen Deutsche entweder in Armut oder sind vom Abrutschen unter die Armutsgrenze bedroht. Auch die Bundesregierung äußert sich besorgt über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.
Der Begriff Armut bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass Millionen Menschen in Deutschland zu verhungern oder zu erfrieren drohen. Stattdessen bezieht er sich auf die relative Armut, die an den durchschnittlichen Lebensbedingungen der jeweiligen Gesellschaft gemessen wird.
Im Jahr 2021 war Deutschland das 20. reichste Land der Welt, gemessen am BIP pro Kopf. Das bedeutet: Rechnet man den Wert aller in einem Land produzierten Waren und Waren zusammen und teilt ihn durch die Einwohnerzahl, kommt man in Deutschland im Durchschnitt auf 50.700 Dollar (52.200 Euro) pro Kopf und Jahr. Zum Vergleich: In Luxemburg, dem reichsten Land der Welt, liegt diese Zahl bei 136.700 Dollar und im ärmsten Land, Burundi, bei 270 Dollar.
Armut – eine Frage der Definition
Obwohl in Europa relativ wenige Menschen in absoluter Armut leben, sind im Vergleich zum nationalen Durchschnitt Millionen von Armut betroffen. Das bedeutet, dass sie mit erheblichen materiellen Einschränkungen leben und nur mit einer für die Mehrheit der Bevölkerung selbstverständlichen Einschränkung ihres Lebensstils über die Runden kommen.
In der EU gilt eine Person als armutsgefährdet oder arm, wenn ihr Einkommen weniger als 60 % des Medians des jeweiligen Landes beträgt. Liegt sie unter 50 %, spricht man von extremer Armut.
Für Deutschland bedeutet dies, dass Alleinstehende, die weniger als 1.148 Euro Nettoeinkommen im Monat verdienen, als unterhalb der Armutsgrenze gelten. Bei Alleinerziehenden mit einem Kind sind es 1.492 Euro, bei einem Haushalt mit zwei Elternteilen und zwei Kindern 2.410 Euro.
Das soziale Sicherheitsnetz trägt wenig zum wirtschaftlichen Aufschwung bei
Deutschland sieht sich in einem robusten sozialen Netz. Wer keine Arbeit findet oder arbeitsunfähig ist, bekommt eine Grundsicherung – umgangssprachlich noch Hartz IV genannt. Mit diesem Geld sollen die grundlegenden Lebenshaltungskosten wie Miete, Heizung und Wasser sowie die Krankenversicherung gedeckt werden.
In diesem System stehen Einzelpersonen und Alleinerziehenden nur 449 Euro im Monat für Lebensmittel, Kleidung, Haushaltswaren, Körperpflegeprodukte und Rechnungen wie Internet, Telefon und Strom zur Verfügung. Für jedes Kind erhält ein Elternteil oder ein Paar je nach Alter zwischen 285 und 376 Euro.
Hartz IV und andere Sozialprogramme sind in Deutschland immer wieder dafür kritisiert worden, dass sie nur das Nötigste abdecken. Als Reaktion darauf hat die Bundesregierung vorgeschlagen, den Regelsatz ab 2023 auf 503 Euro monatlich anzuheben und in Bürgergeld umzubenennen.
Doch auch das wird laut Sozialwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwege noch lange nicht ausreichen. Butterwege sagte der DW, dass mindestens 650 Euro nötig seien, damit die Menschen “in Würde” leben und sich zum Beispiel zu jeder Mahlzeit gesund ernähren können.
Nach dem derzeitigen System sind nur 5 € pro Person und Tag für Lebensmittel vorgesehen, sodass ärmere Haushalte entweder weniger Lebensmittel oder Lebensmittel von geringerer Qualität kaufen müssen.
Rentner kämpfen
Während die Inflation in Deutschland in die Höhe schnellt, werden immer mehr Menschen ohne Hilfe nicht mehr über die Runden kommen. Für viele wird es immer schwieriger, sich Brot, Milch, Obst und Gemüse zu leisten, die über 12 % teurer sind als noch vor einem Jahr. Im Jahr 2020 nutzten rund 1,1 Millionen Menschen Tafeln. Diese Zahl liegt jetzt näher bei 2 Millionen.
Auch bei älteren Menschen nimmt die Armut zu. Auch nach jahrzehntelanger Arbeit reicht eine monatliche Rente oft nicht aus, um alle Ausgaben zu decken. Vor allem Frauen spüren die Belastung, da sie eher Teilzeit gearbeitet haben und weniger bezahlt wurden. Laut einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung werden bis 2036 voraussichtlich 20 Prozent der Deutschen von Altersarmut betroffen sein.
Personen mit Rentenzahlungen unter einer bestimmten Grenze können staatliche Hilfen in Anspruch nehmen. Viele schrecken jedoch davor zurück, weil sie nicht als bedürftig gelten wollen. Studien zeigen, dass sich zwei Drittel der Anspruchsberechtigten dafür schämen. Ältere Menschen versuchen oft lieber, länger zu arbeiten oder Pfanddosen und -flaschen aus Mülltonnen zu sammeln, um ein paar Euro mehr ins Portemonnaie zu stecken.
Die arbeitenden Armen
Auch in Deutschland steigt die Zahl der Menschen, die trotz einer Vollzeitbeschäftigung nicht von ihrem Einkommen leben können – trotz der jüngsten Anhebung des Mindestlohns. Bei 12 Euro pro Stunde würde ein kinderloser Alleinstehender, der 40 Stunden in der Woche arbeitet, ein Nettoeinkommen von rund 1.480 Euro im Monat erhalten. Obwohl dies nominell über der Armutsgrenze liegt, wurde der Überschuss durch die Inflation aufgezehrt.
Auch Studierende sind von der Situation stark betroffen, insbesondere Empfängerinnen und Empfänger von Bundesmitteln. Diese Studierenden erhalten maximal 934 Euro im Monat, darin sind Gelder für Wohnen und Krankenversicherung enthalten. Dieser Betrag bringt Studenten deutlich unter die Armutsgrenze.
Die Bundesregierung will 200 Milliarden Euro ausgeben, um die Auswirkungen der hohen Energiepreise abzufedern. Dies wird jedoch bei weitem nicht ausreichen, um alle zusätzlichen Kosten aufzufangen, und Ökonomen gehen davon aus, dass die Inflation hoch bleiben wird. Das Leben in Deutschland wird auf absehbare Zeit teuer bleiben, und das werden vor allem diejenigen zu spüren bekommen, die keine finanziellen Puffer und wenig Ersparnisse haben.
Quelle: DW