Tropfsteine, Schatzkammern voller Kristalle und ein unterirdischer See – die Berge der Eidgenossenschaft offenbaren ein spannendes Innenleben. Unser Autor stellt einige faszinierende Höhlen in der Schweiz vor, deren Besuch sich lohnt.
Zwischen Sitten und Siders im Kanton Wallis liegt der Höhlensee von St. Léonard, Europas größter für unterirdische Bootsfahrten erschlossene See. Gut 6000 Quadratmeter ist er groß, gelegen unter den Weinbergen des Wallis. Trotz Lichtspielereien, bisweilen munterer Gruppen und abendlicher Konzerte hat dieser See in den Bergen etwas Mystisches, Geheimnisvolles. Man kann hier sogar unter Tage rudern, hinabgestürzte Felsbrocken versperren nach knapp 300 Metern allerdings die Weiterfahrt.
In der griechischen Mythologie ist der Styx der Grenzfluss zum Reich der Toten, eine Sage aber hatten die Leute auch hier: Unverheirateten Frauen zeigte sich einst das Antlitz des Zukünftigen, blickten sie nur auf das Wassers ihres Sees. Der war lange bekannt, aber erst nach einem Erdbeben in den 1940er-Jahren sank der Wasserspiegel so deutlich, dass man mit Gästen darauf rudern konnte.
Das Wasser schimmert grün, türkis und blau, an der Felsdecke glitzert es, als seien es Sterne und nicht Mineralien, geschickte Illumination wirkt wie Kerzenschein. Die Paddelschläge verwerfen die Oberfläche des Lac Souterrain de Saint-Léonard in bizarre Zerrbilder, durch das kristallklare Wasser huschen die Schatten von Forellen, seltsame Spiele von Licht und Dunkel.
Ein Landgang, also ein paar Schritte am Ufer unter Tage, ist drin und vielleicht sieht man auch Fledermäuse an der Decke hängen. Sehr viel diesseitiger sind die Weinfässer von Christophe Bétrisey. Der lässt hier unten, 70 Meter unter den Weinstöcken, ein paar Chargen von seinem Weingut reifen (lac-souterrain.com).
Schinken im Asphaltbad in der Mine von La Presta
Das Licht der Leuchtstoffröhren glänzt auf nassem Fels. Die schweren Stahltüren fallen ins Schloss, dann ist wieder Stille im Stollen. So still wie seit 1986, als hier die letzte Schicht zu Ende ging. Heute sind es Besucher, die diese Ruhe unterbrechen – in der Asphaltmine von La Presta im Val de Travers im Schweizer Jura.
Mehr als hundert Jahre wurde im Val de Travers Asphalt in industriellem Maßstab abgebaut, er galt als besonders gut für die Straßen bedeutender Städte – eben nur das Beste für die Boulevards in Paris und für die Magistralen in London, Budapest, New York. Der Asphalt steckt im Stein, dieses Material schimmert mattschwarz.
Von dem einst riesigen Stollensystem ist ein Teil für Besucher zugänglich. Zu sehen gibt es alte Maschinen, die Verbaue und verlassenen Vortriebe, die Schienenstränge. Und eben das Gestein, aus dem die Leute der Neuchâtel Asphalte Company einst Straßenbelag kochten.
Was die Mineure hier ebenfalls kochten, war Schinken im Asphaltbad. Heute können auch Besucher die Spezialität probieren. Der Schinken wird in Backpapier und sauberes Sackleinen luftdicht eingewickelt, so bleiben die Aromen drin und der Braten schön saftig; dann wird er für ein paar Stunden im 180 Grad Celsius heißen Asphalt gegart. Dazu kann man einen lokalen Neuenburger Wein genießen (mines-asphalte.ch).
Eine Kathedrale in der Tropfsteinhöhle von Vallorbe
Der Eingang in diese fantastische Unterwelt ist unscheinbar. Am Fuß einer 750 Meter hohen Felswand strömt der Fluss Orbe aus dem Kalksteinmassiv – es birgt die Tropfsteinhöhle von Vallorbe, gelegen im Westen der Schweiz, im Kanton Waadt. Kalk ist löchrig und schluckt Wasser, deshalb ist der Karst des Joux-Tales und des Mont Tendre voller Höhlen, kathedralenhafter Hallen.
Voller Tropfsteine sind die, denn in jedem Wasser ist Kalk gelöst. Und steter Tropfen höhlt nicht nur den Stein, er baut auch Tropfstein auf. Tropfen für Tropfen, Jahrmillion für Jahrmillion.
Diese unglaubliche Reise in den Untergrund beginnt unspektakulär: Ein stiller See im ersten Raum und dann einer mit smaragdgrünem Wasser, erste Stalaktiten in der Zitadelle und dann eine Gardine aus Röhrchen, eine Art Vorhanggebilde an der Felswand.
Es wird immer größer, immer gewaltiger, immer fantastischer. Kronleuchter, Bisons und Feen-Schätze glaubten Höhlenforscher zu erkennen und nannten die Formationen auch so. Alles endet nach etlichen Treppen, Stegen und Brücken, die einen tosenden Fluss überspannen, in einer riesenhaften Halle, die sie Kathedrale nannten.
Erst tönt leise Musik, und einzelne Strahler setzen erste Tropfsteine in Szene, Licht und Musik legen zu – eine durchaus gelungene Show, die überwältigt. Die Gänsehaut kommt nicht allein von der Kühle hier unten (grottesdevallorbe.ch).
Die Mühlen in der Höhle von Le Locle
Unweit der französischen Grenze befindet sich im Kanton Neuenburg eine europaweit einzigartige Höhle – mit Mühlen im Berg. Der Ort Le Locle gilt als Wiege der schweizerischen Uhrmacherei. Vor rund 500 Jahren haben sich die Leute hier schon einmal technische Finessen ausgedacht: übereinander angeordnete Wasserräder in einem Berg, die trieben Maschinen an zum Sägen, Dreschen und Mahlen – die Höhlenmühlen von Le Locle.
Vom Museum führt eine Treppe hinab, bald fühlt man die Kühle im Berg. Von den modernen Ausstellungsräumen sind es nur ein paar Schritte in eine bizarre Unterwelt.
Wasser tropft überall, und man hört einen Bach tosen, Mahlwerke und Wasserräder drehen sich, die Szenerie wirkt unheimlich. Und die Tatsache, dass diese Höhle nach Aufgabe der Mühlen im 19. Jahrhundert zum Verklappen von Schlachtabfällen benutzt wurde, macht es nicht besser. Diese knapp 200 Jahre später wieder auszuräumen, war das schwerste Stück Arbeit bei der Errichtung dieses Museums.
Davon ist natürlich nichts mehr zu merken, es riecht nach nassem Gestein. Die steilen Gänge und Treppen führen in den Fels, ein Wasserfall rauscht in die Tiefe – wie viele Meter es hier noch weiter nach unten geht, wissen allenfalls die Höhlenforscher.
Geheimnisvoller und abseitiger wird es bei jedem Schritt allemal, und wie beklemmend war es für die Leute, hier Getreide, Flachs und Holz hin und her zu schleppen. Immer nah dran an den sich drehenden und klappernden Maschinen, immer dunkel, immer nass. Wie viele kamen unter die Räder? In dieser Höhle, dieser Maschine mitten im Berg, atmet man nicht nur die allgegenwärtige kühle Feuchte, sondern auch reichlich Geschichte (lesmoulins.ch).
Die Kristallkluft Gerstenegg im Berner Oberland
Wenn im Erdmantel die Steine schmelzen, entstehen aus bestimmten Zutaten (und wenn die sonstigen Bedingungen stimmen) wunderschöne Stücke: Edelsteine und Kristalle. Letztere findet man zum Beispiel nahe des Grimselpasses zwischen dem Berner Oberland und dem Kanton Wallis. Und wenn die Kräfte der Tektonik sie nach oben heben, in diesem Fall die Kristallkluft von Gerstenegg, hat man überhaupt eine Chance, die Mineralien zu sehen.
Im oberen Haslital befinden sich Wasserkraftwerke. Durch tief in den Fels gesprengte Stollen und Kavernen wird Elektrizität gewonnen, fließen Wasser und Strom, verlaufen ganze Straßen. Als die Bergleute diese Anlagen fertigstellten, öffneten sie zugleich ein Schaufenster der Erdgeschichte, sie fanden eine der schönsten Kristallklüfte der Alpen.
Während der Kraftwerksführungen kann man einen Blick hinein werfen: Wenn der Führer das Licht anmacht, funkeln und glitzern sie tausendfach; es ist eine wunderschöne Schatzkammer (hinter Glas), wie die eines Märchenkönigs. Tausende klare Quarzkristalle, auf manchen strahlen rosarote Flourite.
Ausgestellte Mineralien und Kristalle gibt es an vielen Orten, hier aber ist man – nach einem langem, spektakulärem Weg – mittendrin. Und erfährt, wie diese Wunder der Natur entstanden sind. Man darf sie kurz besuchen und besichtigen. So bleiben die Kristalle geheimnisvoll und etwas Besonderes. Und man selbst ist vielleicht ein klein wenig verzaubert. Wer kennt schon Anatas und Adular?
Auf Stelen neben der Kristallkluft ist ausgestellt und gekonnt in Szene gesetzt, was die Mineralogen hier, tief im Berg, knapp zwei Kilometer vom Eingang entfernt und 500 Meter unter der Oberfläche, sonst noch Wundersames gefunden haben (grimselwelt.ch).