Wäre heute im Vereinigten Königreich Wahl, würde Labour wohl klar gewinnen. Heute beginnt der Parteitag. Parteichef Starmer setzt auf einen Mittekurs – doch der Verzicht auf Populismus könnte zum Problem werden.
Keir Starmer erzählt eine Geschichte sehr, sehr oft – die Geschichte seiner Herkunft. Sein Vater war Werkzeugmacher, arbeitete in einer Fabrik, seine Mutter arbeitete im staatlichen Gesundheitsdienst, bevor sie schwer krank wurde.
Es ist die Erzählung eines Politikers, dem das Studium, die Karriere nicht in die Wiege gelegt war. Der trotzdem Jura studierte und in eine Spitzenposition in der Staatsanwaltschaft aufstieg, nun Parteivorsitzender von Labour ist und möglicherweise bald Premierminister.
Dieser Keir Starmer redet von der Glasdecke, die die Ober- von der Unterschicht trennt, die er durchbrechen möchte. “Die Zukunft von jungen Erwachsenen ist stärker davon beeinflusst, was die Eltern verdienen als von ihren Fähigkeiten. Das ist unverzeihlich. Deswegen meine Leidenschaft, das zu ändern”, sagte er in einem Interview mit der BBC.
Der Faktor Unterhaltung
Es ist eine klassische sozialdemokratische Erzählung von Chancengleichheit, Gerechtigkeit, gesellschaftlichem Zusammenhalt. Und sie ist ihm wichtig. Die britische Gesellschaft ist verkrusteter als anderswo.
Boris Johnson zum Beispiel hat es als Premierminister verstanden, trotz seiner Herkunft aus wohlhabendem Haus, obwohl er die Elite-Schule “Eton” besucht hat, mit seiner hemdsärmeligen Art auch viele Labour-Wähler anzusprechen.
Die politische Kultur im Vereinigten Königreich ist von Populismus geprägt, von einfachen Botschaften. Starmer gelingt dieses Spiel nicht immer. Er spricht differenzierter, wirkt langweilig.
Ringen um Anerkennung
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sagten 46 Prozent der Befragten auf die Frage, ob Starmer eine Verbindung mit normalen Menschen hätte: Nein. Nur 26 Prozent sagten Ja.
Der Parteivorsitzende, der wegen seiner Leistung als Staatsanwalt den Titel “Sir” tragen darf, der eine wirklich authentische Aufstiegsgeschichte zu erzählen hat – ausgerechnet ihm glauben viele das nicht.
Starmer habe erkannt, wie wichtig diese Aufstiegsgeschichte ist, sagt Karl Pike, Dozent an der Queen Mary-Universität in London, deshalb wiederhole er sie so oft. Aber: “Wer ihn immer mal wieder hört, dürfte davon gelangweilt sein.”
Labour zurück in die Mitte bewegt
Doch Starmer setzt sich darüber hinweg, im Kampf um sein Image. Der Spitzenpolitiker hat in den vergangenen Jahren viel kämpfen müssen. 2020 löste er Jeremy Corbyn an der Parteispitze ab. Dieser hatte mit seinem deutlichen linken Kurs die Wahlen 2019 krachend verloren, Starmer rückte die Partei wieder in die Mitte.
Labour steht vor dem heute beginnenden Parteitag in Liverpool geeint da. Keine Grabenkämpfe mehr um eine linke Steuerpolitik, die nie mehrheitsfähig war oder gar um die NATO-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs.
Schwarzbrot – aber erfolgreich
Starmer will derjenige sein, von dem man annimmt, dass er gut regieren kann, dass er das Chaos der Tories beenden kann. Er verspricht Wirtschaftswachstum, eine pragmatische Annäherung an die Europäische Union, ohne die Brexit-Befürworter vor den Kopf zu stoßen, Aufstiegschancen, eine neue Wohnungspolitik.
Das klingt auch nicht visionär, eher nach Schwarzbrot. Doch die Umfragen für Labour sind hervorragend, sie profitieren von der Schwäche der Tories. 46 Prozent der Wählerinnen und Wähler würden für ihn stimmen, die Konservativen kommen nur auf 27 Prozent, sagt das Meinungsforschungsinstitut Savanta.
Hauptsache unfallfrei bleiben
Starmer müsse es einfach nur unfallfrei bis zu den nächsten Wahlen schaffen, die bis Ende 2024 stattgefunden haben müssen, heißt es in der Partei. Er müsse “die Ming-Vase einfach nur heil über die Ziellinie tragen”.
Das allerdings dürfte trotz des derzeitigen Vorsprungs in den Meinungsumfragen ein Balanceakt werden: “Wenn er zu stark auf Sicherheit setzt, schließt er auch viel aus. Und dann kommt er in die Regierung und hat keinen Spielraum mehr. Wenn Starmer aber zu vorsichtig ist, bestimmen immer die Konservativen die Agenda”, sagt der Politologe Karl Pike. Und der Wahlkampf könnte dann populistisch und schrill werden.
Da wäre nicht das ideale Terrain für Starmer, der Populismus nicht mit noch schrilleren Aussagen begegnen kann, sondern mit Sachlichkeit. Das Spiel mit der wertvollen Vase – es ist gar nicht so einfach.