Saturday, July 27, 2024
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Der Traum Von Der Direkten Demokratie – Ein Deutsches Missverständnis


Die Mehrheit der Deutschen fühlt sich politisch machtlos – im Osten rund 60 Prozent, im Westen etwa 50 Prozent. Der Ruf nach direkter Demokratie wird lauter, als Vorbild gilt die Schweiz. Aber für Deutschland ist das Modell aus mehreren Gründen untauglich. Und sogar gefährlich.

Bundeskanzler Willy Brandt appellierte 1969 in seiner ersten Regierungserklärung an seine Landsleute, „mehr Demokratie (zu) wagen“. Also mehr Partizipation. Ganz allgemein. Heute klingt das fast steinzeitlich. Viel mehr Partizipation, mehr direkte Demokratie wagen, wird landauf, landab gerufen. Nicht nur von Opportunisten, Populisten und natürlich von Idealisten, sondern auch von Realisten beziehungsweise Rationalisten. Diese lassen sich kaum von Stimmungen verführen. Sie wollen den Stimmen der Bürger mehr Gewicht verschaffen.

Nicht nur bei Entscheidungen über regionale Themen wie Tunnel, Autobahnen, Flughafen-Startbahnen, Fußballstadien, Bahnhöfe, Transrapid oder andere Neuerungen. Auch im Bund. Artikel 20, 2 des Grundgesetzes bietet die Möglichkeit hierzu: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Gern verweisen die Befürworter solcher Abstimmungen auf das Schweizer Vorbild. Ja, es ist wirklich überzeugend. Aber auch diesbezüglich ist Deutschland nicht die Schweiz. Dort wird die parlamentarische Gesetzgebung nämlich nicht nur durch Volksabstimmungen ergänzt oder gar außer Kraft gesetzt. Auch der Regierungsaufbau ist anders konstruiert.

Er ist auf Konsens, Kollegialität und Eintracht (lateinisch „concordia“) programmiert. Deshalb wird die Schweiz als Konkordanz- beziehungsweise Konsensdemokratie bezeichnet. In bundesdeutschen Koalitionen ist dagegen der parteipolitische Dissens institutionalisiert.

Noch unpassender ist dieser Vergleich, wenn man auch die Judikative beider Staaten betrachtet, also die rechtsprechende Gewalt, was im Rahmen der Gewaltenteilung, also echter Demokratie, unverzichtbar ist. Ob die vom Parlament beschlossenen Gesetze verfassungsgemäß sind oder nicht, entscheidet Deutschlands oberstes Gericht, das Bundesverfassungsgericht. Das oberste Gericht der Schweiz, das Bundesgericht, kann hingegen von der Legislative oder durch Volksentscheide verabschiedete Gesetze nicht aufheben.

In Deutschland dominiert folglich das Rechtsstaatsprinzip, in der Schweiz das Demokratieprinzip. In der Eidgenossenschaft sind vom Volk zum Gesetz weniger Instanzen zwischengeschaltet. Das bedeutet: Volkes Wille wird in Deutschland sozusagen mehrfach filtriert, man könnte auch sagen: verwässert. Gar verfälscht?

Überspitzt formuliert: In Deutschland (sowie den USA und bislang auch in Israel, wo Massen und „Verteidiger der Demokratie“ seit Anfang 2023 für das Rechtsstaatsprinzip auf die Straße gehen) ist das Verfassungsgericht quasi neoabsolutistisch, „Gottes Stellvertreter auf Erden“. Daraus folgt demokratie- und verfassungspolitisch: Wer mehr Demokratie will, müsste zuerst über Gewicht, Funktion und Demos-, also Volksbezug beziehungsweise Verknüpfung mit dem Volkssouverän nachdenken.

Ist mehr Demokratie wagen also das Gebot der Stunde, die Schweiz das Vorbild? Bezogen auf die Judikative: ja. Aber dann wird es schwierig, das Modell ist auf Dauer nicht empfehlenswert für Deutschland. Wie erwähnt ist Helvetia auf Ebene der Exekutive eine Konkordanzdemokratie – dementsprechend müsste Deutschlands Regierung aus Union, SPD, Grünen, FDP, Linken und AfD bestehen. Absurd.

Den meisten Befürwortern von mehr direkter Demokratie schwebt keineswegs das antike Athener Modell der allmächtigen Volksversammlung vor. Historisch auch nur oberflächlich Gebildete wissen, dass jene Volksversammlungen – gedacht als Vollversammlung des Bürgervolks – zum Manipulationsinstrument der Demagogen verkamen.

Abschaffung der Demokratie – durch Volksentscheid

Außerhalb von Konkordanzdemokratien gibt es viele gute Argumente für Volksentscheide – aber mehr dagegen. Abschreckende Beispiele sind der Brexit sowie die französischen und niederländischen Volksentscheide gegen die EU-Verfassung.

Oder das scheindemokratische Instrument des Bonapartismus: Lupenrein „demokratisch“ schafft sich dabei die parlamentarische Demokratie selbst ab – durch Volksentscheid. Jüngstes Beispiel: Erdogans Referendum zur Einführung des Präsidialsystems in der Türkei im Jahr 2017.

Die direkte Demokratie als Stimmungsdemokratie heizt die Volksgemüter auf, mobilisiert die Menschen. Diese Mobilisierung ist zweifellos Partizipation. So gesehen bedeutet mehr zu partizipieren, zumindest strukturell und potenziell, mehr zu polarisieren. Weil zudem immer mehr Gesellschaften extrem fragmentiert und daher polarisiert sind (derzeit besonders Frankreich, USA und Israel), kann Polarisierung schnell zu innerstaatlicher Gewalt führen. Auf diese Weise führt mehr Partizipation zu quasi bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Damit sind wir beim historischen Ursprung des Parlamentarismus beziehungsweise der indirekten Demokratie im hochmittelalterlichen England. Mit der Magna Charta setzten die adeligen Widersacher im Jahre 1215 dem Bürgerkrieg – zweifellos eine, wenngleich extreme Form der Partizipation – ein Ende. Sie verlagerten ihre Auseinandersetzungen vom Schlachtfeld in eine vorparlamentarische Institution. Die war alles andere als für das gesamte Volk repräsentativ, die Kriegsakteure ließen sich durch ihre Vertreter repräsentieren.

Man wechselte also die Instrumente: Worte statt Waffen. Verbaler Streit, Debatten, auch wütende, der Versuch, andere nicht zu töten, sondern zu überzeugen. Was für ein großer zivilisatorischer Sprung! Das war der Beginn des Repräsentationsmodells, aber es ging ums Pazifizieren statt ums Partizipieren. Der Weg zur demokratisch bestimmten Repräsentation, also der repräsentativen Demokratie, dem demokratischen Parlamentarismus, war noch lang.

Seit 1215 ist viel Wasser durch Themse und Limmat, Rhein und Spree geflossen. Partizipation gilt daher spätestens seit der Französischen Revolution zurecht als hohes Gut. Aber die von ihr ausgelöste, zumindest programmatisch zurecht ikonisierte Partizipation führte zu Blutbädern. Deshalb sollte nicht Partizipation, sondern Pazifikation nach innen und außen das höchste Gut einer jeden Gesellschaft sein.

Polarisierung und Chaos

Heißt das im Extremfall Friedhofsruhe à la Nordkorea? Nein. Sondern Pazifikation mit Partizipation, also mit mehr direkter Demokratie. Das klingt wie die Quadratur des Kreises, ist aber machbar, wie das dynamische Schweizer Modell beweist.

Wer das jedoch ohne die Schweizer Rahmenbedingungen auf der Ebene der Judikative (keine Verfassungsgerichtsbarkeit) und Exekutive (Konkordanzdemokratie) einführen will, wird Schiffbruch erleiden, wird Polarisierung und Chaos schaffen. Die Folge: wieder Waffen statt Worte, wie im Mittelalter. Für mehr direkte Demokratie muss man deren Voraussetzungen verstehen. Veränderungen, die auf Missverständnissen, gar Ahnungslosigkeit basieren, sind gefährliche Dummheiten.

Zudem liegt die Wahlbeteiligung bei sogenannten Volksentscheiden meist bestenfalls um fünfzig Prozent, selbst in der Schweiz. Das heißt: Die Beteiligung des Volkes in seiner Gesamtheit ist eine Fiktion, ein frommer Wunsch. Das wiederum bedeutet: Die direkte Demokratie ist Opium für das Volk und ein Alibi der Aktivisten. Faktisch eine Mogelpackung. Auch wenn es gut gemeint ist.

SourceWelt
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